Die Arbeit mit dem Schatten für mehr Selbstbewusstsein
Um Jordan B. Peterson ist in den letzten Jahren ein regelrechter Hype entstanden. Man könnte ihn zurecht als einen genuin durch das Internet und Youtube bekannt gewordenen Intellektuellen bezeichnen, der althergebrachte Narrative durch seine tiefenpsychologische Sichtweise sprengt. Sein Buch „12 Rules for Life“ ist ein internationaler Bestseller. Jordan Peterson stellt sich zwischen die Fronten von liberalen und autoritären Weltanschauungen und gewinnt dadurch großen Zulauf. Gleichzeitig wird er von einigen Seiten stark kritisiert.
Peterson erlangte seine Berühmtheit durch ein Interview mit Cathy Newman, in welchem es um Feminismus und den Genderpaygap geht. Peterson, der in dem Interview ruhig und sachlich bleibt, wird von der Moderatorin heftig angegriffen. Cathy Newman versucht angestrengt Schwachstellen in Petersons Argumentation ausfindig zu machen, bedient sich dabei aber eines recht platten Narrativs des Feminismus, und scheitert dabei an Petersons differenzierten Sichtweisen. (Ich empfehle, sich dieses äußerst spannende Interview selbst anzuschauen. Leider gibt es keine deutschen sondern nur englische Untertitel.)
Jordan Peterson hat dadurch sowohl viele Anhänger, als auch Kritiker gewonnen, letztere vor allem in den klassischen Mainstream-Medien. Gleichzeitig ist dieses Interview ein Symbol unserer Zeit, denn es zeigt 1. die Kontroverse zwischen Mann und Frau, zwischen Feminismus und Patriarchat, 2. den Niedergang des klassischen TV gegenüber Youtube und Co. und 3. zwischen neomarxistischen Relativismus (wie Peterson das nennt) und dem leicht rechtslastigen, wertkonservativen Liberalismus wie Peterson ihn vertritt.
In diesem Artikel soll es um (kollektive) Schatten gehen, die in diesem Interview offensichtlich werden. Peterson selbst ist klinischer Psychologe, der insbesondere von C.G. Jung geprägt ist. Die Frage lautet: Wie können mir mehr Selbstbewusstsein durch Schattenarbeit entwickeln? Welche Schatten prägen im Augenblick den gesellschaftlichen Diskurs und wie können wir uns konstruktiv dieser Schatten bewusst werden?
Was ist der Schatten?
Um zu verstehen, was der Schatten ist, muss man zunächst das Modell von Jung nachvollziehen. Dieses Modell besteht ähnlich wie bei Freud aus drei Bestandteilen: dem Ich, dem Schatten und der Persona. Das Ich ist hierbei unser Bild von uns selber. Man könnte das Ich auch als Selbstkonzept bezeichnen. Dieses steht zwischen der Persona und dem Schatten. Die Persona (von lateinisch „per-sonare“ – „hindurch-klingen“) ist die Maske, die wir unseren Mitmenschen gegenüber tragen. Sie lässt unser Gegenüber glauben, dass wir die Persona seien. Die Persona ist quasi eine gefälschte Individualität, weil sie in Wahrheit nur den kollektiven Erwartungen entspricht, und damit der Anpassung dient. Die Persona ist die Rolle, die wir anderen Menschen gegenüber einnehmen.
Die verhassten Schatten
Der Schatten ist nun das, was weder in die Persona, noch in das Selbstkonzept passt. Der Schatten ist all das, was ich an mir nicht wahrhaben will: das Böse, das Aggressive, das Unangepasste, das Infantile, das Triebgeleitete, Gierige, Hasserfüllte, das Ängstliche und vieles mehr… Als Menschen tragen wir alle das Erbe mit uns herum, in der Lage zu sein, die schändlichsten Dinge zu tun, wenn die Umstände es hergeben. Bestes Beispiel im deutschen Raum ist der Holocaust, der noch nicht allzu lang her ist. Und heute trägt jeder einzelne von uns diesen Schatten in sich. Ein anderes Beispiel ist der Anstieg an Gewalttaten und Morden zur Wendezeit in Ostdeutschland. Sobald die Umstände es erlauben, bricht der bislang verdrängte Schatten durch und verleitet uns zu schlechten Taten.
„Auch das glücklichste Leben ist nicht ohne ein gewisses Maß an Dunkelheit denkbar.“ – C.G. Jung
Das Perfide am Schatten: wenn er verdrängt wird, sucht er sich andere Wege nach außen. Meistens projizieren wir eigene verdrängte Schattenanteile auf andere Menschen. Wir sehen quasi unseren eigenen Schatten, der auf den anderen fällt, erkennen aber nicht, dass es eigentlich unserer ist. Dadurch, dass der Schatten verdrängt wird, gewinnt er an Autonomie. Das ist auch eine theoretische Grundlage zur Erklärung von Schizophrenien, in welchen oft im Außen dunkle Mächte erlebt werden, die einen bedrohen. Diese könnten derart stark verdrängte Schattenanteile darstellen, dass sie als ebenso real und bedrohlich in der äußeren Welt erlebt werden, wie sie verdrängt sind. Aber auch im Alltag psychisch normaler Menschen spielen Schatten eine große Rolle. Das, was wir am anderen ablehnen, das lehnen wir insbesondere auch in uns selber ab. Je heftiger die Ablehnung ist, desto tiefer geht die innere Spaltung und desto unbewusster ist der Schatten.
Was ist Schattenarbeit?
Schattenarbeit ist Teil des Individuationsprozesses. Zitat C.G. Jung:
„Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte »Individuation« darum auch als »Verselbstung« oder als »Selbstverwirklichung« übersetzen.“
Mit anderen Worten geht es darum, ein vollständiges, ganzheitliches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Denn Schattenarbeit hat das Bewusstsein seiner selbst zum Ziel. Es geht in der Schattenarbeit nicht darum, sich von den Schatten zu befreien und nur noch Licht zu sein, denn diese Schatten sind uns unweigerlich mitgegeben. Es geht darum, sich der Schatten bewusst zu sein. Sie sind unser Erbe als biologisch- und kulturell-evolutionär bedingtes Säugetier. Es gibt Schatten, die besonders tiefgreifend in uns verankert sind, und die nicht durch die eigene Biografie entstanden sind. Deswegen unterscheidet Jung auch zwischen persönlichem und archetypischem Schatten. Psychologisch gesehen könnte man z.B. die sieben Todsünden als Auflistung universeller, archetypischer Schatten des Menschen bezeichnen.
Schattenarbeit ist auch für Jordan Peterson ein wesentliches Element der persönlichen und spirituellen Entwicklung. Für Peterson passieren tiefgreifende Erfahrungen dann, wenn man mit sich und/oder mit anderen eine Einheit bildet, wenn du wirklich mit dir und der Welt im Einklang bist. Solange man verdrängte Schattenanteile hat, ist man noch in sich gespalten. Man ist, wie Peterson sagt, naiv und vorwurfsvoll. Solange nimmt man die Welt wie durch einen Filter wahr, und fühlt sich getrennt von seinem vollen Potenzial und dem vollen Leben, mitsamt dem Schatten und dem Licht.
„Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte.“ – C.G. Jung
Akzeptanz wirkt Wunder
Selbstverständlich heißt, seinen Schatten bewusst zu akzeptieren oder erst einmal in sich selber nach Schatten zu suchen nicht, dass andere keine Fehltritte oder schlechte Handlungen machen können! Akzeptanz heißt nicht, den Schatten zu bejahen und zu wollen. Den Schatten in sich zu suchen heißt nicht, dem Bösen in der Welt zu entfliehen, sondern ganz im Gegenteil: ihm ins Gesicht zu sehen. Schattenarbeit bedeutet, so selbstbewusst zu werden, dass ich dem Bösen in der Welt aufrecht entgegentreten kann. Jordan Peterson macht diesen Punkt sehr stark, was ich persönlich sehr inspirierend finde! Sehr gut nachsehen kann man das in diesem Interview:
Dem Leiden ins Angesicht sehen
Peterson bringt hier eine interessante psychologische Deutung des Messias-Archetypen, der nämlich genau das macht: er nimmt die Leiden und Sünden der Welt auf seine Schultern. Für Peterson ist dieser der vollkommen inkarnierte Mensch, der den Horror und das Böse umarmt und aufnimmt und mit ihm arbeitet, statt vor ihm wegzulaufen. Das mag anfangs erschreckend klingen, ist aber das einzige, das unserem Leben einen nachhaltigen Sinn verleihen kann! Peterson spricht auch vom existentiellen Horror als bester Motivation.
Der beste Weg, sich mit seinen Schatten auseinanderzusetzen, ist sich als alles das vorzustellen, was man verabscheut und zu erkennen, dass es teil des eigenen Selbst ist: der innere Nazi und Auschwitz-Wächter, der innere Vergewaltiger, der innere Bankster und Konzernboss, der innere korrupte Politiker, der innere Junkie, und vieles vieles mehr. Sich bewusst zu werden, dass wir diese Schatten in uns tragen, kann zunächst erschreckend sein. In unserer Psyche gibt es diese Sub-Persönlichkeiten, die zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen genau so zum Zuge hätten kommen können, wie bei anderen Menschen auch.
Das ist selbstverständlich keine Entschuldigung für irgendetwas, es ist nur notwendige psychologische Arbeit um zu erkennen, wie tief der Schatten und damit wie tief das Leiden sitzt. Wenn ich diese Anteile anerkenne so führt das, fast paradoxerweise wie Peterson sagt, zu mehr Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Ichstärke. Wir anerkennen die verquere Freude an Machtmissbrauch, Hass und Gier, aber wir sehen auch, wie schal und substanzlos diese Freuden im Vergleich dazu sind, ein authentisches und selbstbewusstes, gutes Leben zu führen. Das, was höher steht als die Freude an diesen Dingen ist Weisheit und ein ethisches Leben. Das ist der Schluss, den Peterson daraus zieht.
Schatten im gesellschaftlichen Diskurs: Jordan Peterson und Cathy Newman
Dieses Interview ist ein sehr spannendes Beispiel, weil der Schatten hier konkret sichtbar wird. Es ist denke ich unbestreitbar, dass hier keine tiefgehende Konversation stattfindet, in der beide Seiten aufeinander eingehen und Argumente austauschen. Jordan Peterson scheint in diesem Gespräch weitestgehend in sich zu ruhen, während Cathy Newman sehr oberflächlich und darauf bedacht zu sein scheint, Peterson Aussagen zu entlocken, die in den Ohren der Öffentlichkeit negativ klingen. Cathy Newman, die laut einer ihrer ehemaligen Mitarbeiter (David Fuller, der jetzt den empfehlenswerten Kanal Rebel Wisdom gegründet hat) eine sehr intelligente und warme, mitfühlende Frau ist, agiert hier nicht als sie selbst, sondern als eine Art Kollektiv-Persona, durch welche die unbewusste (und damit schattenhafte) Wut der Frauen überhaupt ausgetragen wird.
Man könnte die Vermutung aufstellen, dass der Streit, der zwischen den beiden ausgetragen wird, etwas archetypisches hat, was auch ein Grund dafür wäre, dass dieses Interview so populär ist. Jeder findet sich darin wieder, und jeder kennt solche Diskussionen, in welchen nichts zum anderen durchdringt. Das ist ein starkes Anzeichen dafür, das hier nicht zwei reife Individuen argumentieren, sondern dass einer seinen Schatten auf den anderen projiziert und in demjenigen dann die Personifizierung des Schattens meint wiederzuerkennen, so wie Newman in Jordan Peterson das toxisch Männliche entlarven möchte. Das bedeutet nicht, das Fehlverhalten toxischer Männer zu legitimieren oder zu entschuldigen. Es bedeutet lediglich, die Pauschalisierung aller Männer als Täter und aller Frauen als Opfer als einen kollektiven Schatten zu erkennen.
Und ähnliche Dynamiken wie in diesem Interview finden sich in allen Diskursen wieder, auch in den deutschen Medien. Ich will gar nicht erst anfangen, die unzähligen Beispiele aufzulisten, die mir einfallen…
Wie man ein starkes Selbstbewusstsein durch Schattenarbeit entwickelt
Um die wichtigsten Punkte noch einmal zusammenzufassen:
- Schatten sind die verdrängten negativen Anteile des Selbst.
- Wir können Schatten nicht loswerden, aber wir können uns ihrer bewusst werden.
- Schatten die verdrängt werden, werden zumeist auf andere projiziert.
- Durch die Bewusstwerdung integrieren wir sie in unser Selbst und kommen so der Individuation (Selbstverwirklichung) näher und werden fähig, dem Leiden in der Welt wirklich zu begegnen und unserem Leben einen Sinn zu geben!
- Schatten spielen in allen gesellschaftlichen Diskursen eine Rolle und schüren so langfristig enormes Konfliktpotenzial und damit Leiden, daher ist es wichtig diese Dynamiken rechtzeitig und genau zu erkennen.
Hallo! Das ist ein sehr interessanter Artikel, der zum Nachdenken anregt. Ich glaube aber nicht so richtig an die Existenz dieses
„Schattens“. Im Prinzip sind wir Tiere und wir sind kollektive Wesen. Man kann natürlich leicht ein „guter Mensch“ sein, wenn rundherum alles in Ordnung ist und wenn man auch richtig erzogen wurde. Aber wenn das nicht der Fall ist, geht man wahrscheinlich andere Wege. Wer nichts hat, wird eher kämpfen und wahrscheinlich auch brutaler sein, als jemand, dem alles in den Schoß gefallen ist. Das ist unsere Natur. Wir Menschen sind an sich grausame Wesen und deshalb ist es auch schwer, in der grausamen Menschenwelt gut zu überleben, wenn man nur gut sein möchte. Aber in jedem Fall sind wir abhängig von den Umweltbedingungen und dazu zählen auch die anderen Menschen. Wer kämpfen muss, braucht Emotionen – und diese sind eben nicht immer positiver Natur. Jungs Theorie ist meiner Meinung nach eine ziemliche Vereinfachung. Ich beschäftige mich zwar nicht direkt mit Psychologie, sondern mit Parapsychologie und mit Träumen, aber ich habe einiges von Jung gelesen. In mancher Hinsicht mag er Recht haben, aber was den „Schatten“ betrifft, mag ich ihm nicht zustimmen.
Danke, liebe Maria, für Deinen Beitrag!