Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist eines der einflussreichsten und wichtigsten Werke der neueren Philosophie überhaupt. Allerdings ist es sehr schwer zu lesen und ich habe Menschen kennengelernt, die dieses Buch schon seit über sieben Jahren studieren. Dennoch sind selbst diese Experten sich uneins über die Bedeutung und die Interpretation verschiedener wichtiger Stellen. Dies vorweg gesagt, damit klar ist, dass ich mit den Gedanken, die ich aus dem Kapitel zum Selbstbewusstsein schöpfe und hier darlege, keine ausgearbeitete Interpretation anbiete, sondern Gedankenanstöße. Es ist schwer, die Position von Hegel zum Selbstbewusstsein in allgemeinverständlichen Wörtern wiederzugeben, ohne ihn übermäßig runterzubrechen, aber den Versuch ist es wert. 😉
Was will Hegel mit der Phänomenologie des Geistes?
Grob gesagt ist die „Phänomenologie des Geistes“, die ursprünglich „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ heißen sollte, eine Entwicklungstheorie. Sie soll erklären, wie sich das Wissen des Menschen (sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft) entwickelt hat. Hegel hat selbst eine Zusammenfassung verfasst, die ganz gut erklärt, was er für einen Anspruch an die Phänomenologie hat. Auch wenn diese etwas länger ist, möchte ich sie hier wiedergeben:
„Dieser Band stellt das werdende Wissen dar. Die Phänomenologie des Geistes soll an die Stelle der psychologischen Erklärungen oder auch der abstrakten Erörterungen über die Begründung des Wissens treten. Sie betrachtet die Vorbereitung zur Wissenschaft aus einem Gesichtspunkte, wodurch sie eine neue, interessante, und die erste Wissenschaft der Philosophie ist. Sie fasst die verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges in sich, durch welchen er reines Wissen oder absoluter Geist wird.
Es wird daher in den Hauptabteilungen dieser Wissenschaft, die wieder in mehrere zerfallen, das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein, die beobachtende und handelnde Vernunft, der Geist selbst, als sittlicher, gebildeter und moralischer Geist, und endlich als religiöser in seinen unterschiedlichen Formen betrachtet. Der dem ersten Blick sich als Chaos darbietende Reichtum der Erscheinungen des Geistes ist in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht, welche sich nach ihrer Notwendigkeit darstellt, in der die unvollkommenen sich auflösen und in höhere übergehen, welche ihre nächste Wahrheit sind. Die letzte Wahrheit finden sie zunächst in der Religion und dann in der Wissenschaft, also dem Resultate des Ganzen.“
Von der sinnlichen Gewissheit bis zum absoluten Geist
Wie Hegel hier schreibt, geht es um das werdende Wissen. Nicht das Wissen als solches, sondern wie es überhaupt zu Wissen kommt. Die Phänomenologie beginnt mit der sinnlichen Gewissheit, also der Tatsache, dass ich zum Beispiel den Schreibtisch vor mir sehen und tasten kann und entwickelt sich hin bis zum absoluten Geist oder der letzten Wahrheit, die sich in der Wissenschaft findet. Diese letzte Wahrheit begründet wiederum die sinnliche Gewissheit. Die Phänomenologie bildet daher einen Kreis.
Der Geist ist nicht als eine individuelle Intelligenz zu verstehen, sondern der Geist ist etwas Intersubjektives. Der Geist ist, was sich aus der Interaktion zwischen Menschen herausbildet, aber zugleich auch eigenständig, weil er nicht auf einzelne Interaktionen angewiesen ist. Diesen Geist könnte man vorläufig (!) mit Zeitgeist ins Allgemeinverständliche übersetzen. Aufgrund eines Zeitgeistes werden Individuen in ihren Handlungen beeinflusst, wodurch sie wiederum diesen Zeitgeist verstärken. Dennoch ist dieser Geist mehr als die Summe seiner Teile. Daher besitzt dieser eine gewisse Eigenständigkeit und setzt sich über Generationen fort.
Wie Hegel zum Selbstbewusstsein kommt
Am Anfang seines Werks geht es zunächst um das Bewusstsein. Bewusstsein ist laut Hegel das, was etwas von sich unterscheidet, auf das es sich zugleich bezieht. Bewusstsein ist daher eine ganz fundamentale Kategorie. So hat zum Beispiel ein Wolf Bewusstsein, weil er sich von seiner Beute unterscheidet, aber sich zugleich auf sie bezieht, indem er sie jagt. Im Bewusstsein liegt sowohl Trennung als auch Verbindung. Wenn ich zum Beispiel auf meinen Schreibtisch zeige und sage: „Dieser Schreibtisch ist jetzt hier“, dann habe ich diesen Schreibtisch von mir unterschieden, weil ich der Metapher gemäß von mir wegzeige, um mich dann aber zugleich auf ihn zu beziehen und zu sagen „dieser Schreibtisch“.
Damit haben wir den Fall der sinnlichen Gewissheit, mit dem Hegel fortfährt. Wenn ich sage: „Dieser Schreibtisch ist jetzt hier“, dann habe ich über den Schreibtisch nichts ausgesagt und mich auf ganz allgemeine Kategorien wie „Hier“ und „Jetzt“ bezogen. Hier gibt es eine interessante Wendung, die Hegel vollzieht. Hegel sagt, dass das, was eigentlich das Konkreteste sein soll, nämlich die sinnliche Gewissheit (dass z.B. dieser Schreibtisch vor mir steht), sich als das Abstrakteste überhaupt entpuppt. Nämlich als die allgemeinen Kategorien „Hier“ und „Jetzt“. Außerdem beziehe ich mich bei der sinnlichen Gewissheit stillschweigend auf eine Unzahl an Voraussetzungen. Diese ermöglichen es überhaupt erst, so einen Satz zu äußern. Und die gilt es jetzt einzuholen. Hegel möchte im Grunde wissen, wie wir Gewissheit haben können (dass da ein Schreibtisch ist).
Selbstbewusstsein als Selbstreflexion
Hier kommt nun Hegel zum Selbstbewusstsein. Dieses ist grundlegend eine reflexive Kategorie. Das Subjekt wendet das Bewusstsein auf sich selbst, und ist daher sowohl derjenige, der bewusst wahrgenommen wird, als auch der bewusst Wahrnehmende. Wir lösen uns also vom naiven „da steht ein Schreibtisch“. Wir bemerken, dass wir uns selbst verstehen müssen, wenn wir die Wahrheit verstehen wollen. Nicht umsonst sagt Hegel daher: „Mit dem Selbstbewusstsein sind wir also nun in das einheimische Reich der Wahrheit getreten.“
Aber wir stehen mit dem Selbstbewusstsein für Hegel erst am Anfang des Reiches der Wahrheit. Denn nun entwickelt Hegel einen äußerst spannenden Gedanken: Bewusstsein ist ja das, was etwas von sich unterscheidet, worauf es sich zugleich bezieht. Mit anderen Worten, ist Bewusstsein die Trennung des Subjekts vom Objekt bei gleichzeitiger Vermittlung beider. Ich brachte oben das Beispiel mit dem Wolf und seiner Beute. Sie sind nicht das gleiche, aber der Wolf hat einen intuitiven Bezug zu seiner Beute. Wenn sich nun, wie beim Menschen, das Bewusstsein auf sich selbst bezieht, geht der Bezug zur Welt erst einmal verloren. Das Selbstbewusstsein wird eigenständig, weil es selbstbezüglich ist. Und nun kommt der Clou: Weil das Bewusstsein oder das Subjekt sich auf sich selber bezieht, wird die Unterscheidung vom Objekt stärker und deutlicher. Weil der Bezug zur Welt aber nach wie vor besteht, wird auch die Beziehung auf das Objekt stärker und deutlicher!
Die grundlegende Begierde-Struktur des Lebens
Dies nennt Hegel Begierde. Anders gesagt: Je deutlicher der Mensch durch sein Selbstbewusstsein von der Welt getrennt ist, desto größer ist zugleich seine Begierde nach ihr! Dadurch, dass das Bewusstsein oder das Individuum seine Selbständigkeit erkennt, erscheint ihm die Welt ebenfalls selbständiger. Das Ich setzt sich durch sein Selbstbewusstsein als positiv und die Welt als negativ. Es versucht daher sich die äußerliche Welt durch die Begierde „einzuverleiben“, es in seiner Selbständigkeit zu vernichten oder zu negieren, weil durch die Negation der Negation das Positive entstehen kann. Diese Begierde findet sich als libidinöser Bezug zur Welt übrigens auch bei Freud wieder und taucht bei ihm als das Unbewusste auf.
Und weil aber das Selbstbewusstsein dadurch abhängig vom Negativen macht, verstärkt es durch die Befriedigung der Begierde die Begierde selbst nur umso mehr. Das Selbstbewusstsein schafft es nicht, die Trennung zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, sondern braucht sie vielmehr. Hegel betrachtet die Begierde als wesentliches Merkmal des lebendigen Prozesses. Für mich stellt sich hier die Frage, ab wann man von Selbstbewusstsein sprechen kann. Offensichtlich verfügen auch einige Tiere über ein vergleichsweise hohes Niveau an Selbstreflexion. Aber vielleicht haben auch andere Tiere schon ein Proto-Selbstbewusstsein, quasi als Keim oder Anlage?
Das Selbstbewusstsein braucht andere Selbstbewusstseine
Aber zurück zum Text: Hegel kommt zu einem sehr spannenden Punkt: In der bloßen Begierde kann das Selbstbewusstsein nicht als solches bestätigt werden. Oder anders gesagt: Weil die Begierde nach dem Äußeren immer mindestens ebenso groß sein muss, wie die Trennung von ihm, verschwindet das Selbstbewusstsein in ihm. Es ist dann gar nicht mehr selbständig, weil es als Begierde Teil des Lebensprozesses ist. Um mein Selbstbewusstsein also zu bestätigen, brauche ich etwas, das selbständig ist. Und was ist selbständig? — Ein anderes Selbstbewusstsein!
Selbstbewusstsein kann letztlich nur im Verbund mit anderen Selbstbewusstseins entstehen! Ab hier beginnt Hegels Sozialtheorie. Es hat auch Konsequenzen, wenn wir verstehen wollen, was Selbstbewusstsein ist. Psychologisierend könnte man zunächst einmal sagen, dass ein hohes Selbstbewusstsein nur gegenüber anderen sinnvoll ist. Angenommen, ich lebte als Einsiedler auf dem Berg, wofür bräuchte ich dann ein hohes Selbstbewusstsein? Selbstbewusstsein wird dann notwendig, wenn wir anderen Menschen souverän und selbstsicher begegnen wollen, und ihnen zeigen wollen, dass wir eigenständig sind. Wenn wir zum Beispiel eine Rede halten wollen, sollten wir zeigen können, dass wir eigenständige Gedanken haben und sie selbstbewusst vortragen können. Dann wird Selbstbewusstsein wichtig. Und überhaupt ist Selbstbewusstsein nur dann verstehbar, wenn wir es als Abgrenzung von bereits vorhandenen psychischen und sozialen Bindungen betrachten.
Selbstbewusstsein als Voraussetzung für Anerkennung
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Und selbst wenn sich Selbstbewusstseine voreinander behaupten müssen, und der eine den anderen unterwirft (wie im folgenden Kapitel bei Hegel), so ist auch das als wechselseitig abhängiges und verbundenes Phänomen zu betrachten. Hegel wird in der Folge den Begriff der Anerkennung entwickeln. Dieser hat in der Phänomenologie des Geistes eine zentrale Stellung inne. Das Selbstbewusstsein hat für Hegel beide Momente. Die psychische Realität besteht aber in jedem Fall in der Beziehung auf andere Menschen. Und damit ist auch das Selbstbewusstsein von anderen Menschen abhängig. Daher ist folgende Frage besonders wichtig: Lebe ich in einer Umgebung, die mich auf verschiedenen Ebenen unterstützt? Oder lebe ich in einer Umgebung, in der eine Konkurrenzmentalität vorherrscht und in der es wenig Wertschätzung gibt?
Noch einmal zusammengefasst: Die zwei wesentlichen Erkenntnisse in Bezug auf das Selbstbewusstsein sind für mich, dass es erstens mit einer grundlegenden Trennung von Subjekt und Objekt zu tun hat, die aber zugleich durch eine Begierde-Struktur kompensiert wird. Zweitens ist Selbstbewusstsein ein soziales Phänomen. Selbstbewusst ist derjenige, der von anderen als selbstbewusst wahrgenommen wird. Das ist der Grund, dass Selbstbewusstsein viel mit Kommunikation und Auftreten zu tun hat. Als Grundlage hat das Selbstbewusstsein aber immer Selbstreflexion, und das ist der Grund, warum Menschen zwar nach außen selbstbewusst wirken können, aber es nach innen nicht sein müssen.
Hegel 8.0 – Spiral Dynamics
Ein modernes Modell zur Entwicklung des menschlichen Geistes ist Spiral Dynamics – dieses beruht im Kern auf Hegel’schen Ideen: die dialektische, evolutionäre Entwicklung von Bewusstsein, woraus eine teleologische Entfalung des Weltgeistes erwächst. Das Selbstbewusstsein des Menschen durchwandert dabei typische Ebenen. >>Mehr dazu<<
Ich hoffe, ich konnte ein paar Gedanken zum Selbstbewusstsein bei Hegel verständlich machen. Und dass Du diesen Text mit Gewinn lesen konntest.
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Hallo Tim,
herzlichen Dank für Deine Ausführungen, die mir sehr geholfen haben, ansatzweise zu verstehen, was Hegel mit Selbstbewusstsein meint! Ich halte die PhdG für extrem sophisticated!!! Da kann man schon verstehen, dass sich viele mit der Philosophie schwer tun! Mit macht es aber trotzdem Freude. Vieles von Hegel bleibt mir unverständlich: wenn das Selbstbewusstsein per se reflexiv ist, könnte es doch den Hang zur Begierde durchschauen und sich emanzipieren. … Frage an Deinen Text: welche zwei Momente meinst Du in dem Satz „Das Selbstbewusstsein hat für Hegel beide Momente“?
Viele Grüße Claudia
Hi Claudia, ich freue mich über das positive Feedback! 🙂 Ja, sobald ich wieder mehr Zeit habe, möchte ich mich auch wieder mehr mit Hegel auseinandersetzen, im Augenblick komme ich nicht dazu. Meiner Meinung nach wird Hegel unter Nichtakademikern unterschätzt und im akademischen Bereich überschätzt, und beides aufgrund der Tatsache, dass er so schwer verstanden wird. ;D Ich verstehe es so, dass das Subjekt im Verlauf der PhdG eine Wandlung macht, die es über die Begierde-Struktur erhebt, indem es immer mehr in sein Bewusstsein integriert a.k.a. sich über den Geist emanzipiert und mit der Wirklichkeit verbindet. Mit den beiden Momenten meinte ich wahrscheinlich, dass Selbstbewusstsein was individuelles und was soziales zugleich ist.
Herzlichen Gruß, Tim
Schöner Blog, aber bißchen peinlich ist schon die falsche Rechtschreibung bei den Zitaten, also bei Selbstbewußtsein, faßt etc. Verzerrt ja grob die Sprache Hegels.
Vielen Dank für den Hinweis. Wir werden es überarbeiten!
Ich beschäftige mich auch mit der Frage: in welchem Verhältnis stehen Selbstbewusstsein – Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Auch bin ich ein großer Fan diese Positionen philosophisch zu betrachten – und nicht reinwissenschaftlich.In meiner Philosophie besteht das SELBST eben aus diesen drei Komponenten-Und diese haben eine unmittelbare Wirkung gegenseitig. Sich selbst-bewusst-werden hat darin nichts mit der Wirkung auf Andere zu tun, sondern gibt mir meine Realität ( meine Wahrheit!) in körperlicher, geistiger und spiritueller Hinsicht. Und aus dieser innere Sicht baut auch mein intrinsisches Selbst–Vertrauen auf. Dieses Vertrauen auf mich Selbst, verbunden mit meinem (Selbst) Bewusst-sein, gibt mir meinen inneren Selbstwert. Und dieser Selbstwert ist die Brücke zum ICH (mit seinen bewussten und unbewussten Teilen) welches mein Selbst (mit allen genannten Aspekten) nach „Außen“ repräsentiert. Habe ich ein „starkes (oder bewusstes) Selbst“, wirkt es (ich) auf andere als souveräne, starke, interessante Persönlichkeit. Im Gegenteil zu Menschen welche sich nicht bewusst sind, deshalb sich auch selbst nicht vertrauen können und ihren Wert nur durch die Anerkennung und Bestätigung anderer erhalten.
Danke, Christian, für Deinen Beitrag. Selbstvertrauen entsteht aus Selbstbewusstsein, das hast du schön zusammengefasst. Alles Gute!